Im Winter 1960 flieht der zehnjährige Udo Baer mit seinen Eltern aus dem brandenburgischen Spremberg nach Westdeutschland. Er lässt alles zurück und beginnt ein neues Leben. „Trauer durften weder die Kinder noch die Eltern spüren“, erinnert er sich. Seine Fluchterfahrung und das Leben in der DDR prägen ihn noch heute.
Nun hat der Therapeut das Buch „DDR-Erbe in der Seele“ geschrieben, das die Geschichten von Menschen erzählt, die in der DDR aufgewachsen sind und die von diesem System geprägt wurden.
Tiefe Spuren
Udo Baers Eltern forderten von ihrem Sohn, die neue Situation sofort als gegeben anzunehmen, so, wie sie es selbst auch gewohnt waren. Fragen stellen, Dinge hinterfragen oder Gefühle wie Heimweh zulassen war nicht vorgesehen. Als Udo Baer in der S-Bahn saß, in der sie in den Westen flüchteten, kamen ihm die Tränen, als er verstand, dass er (vermeintlich) nie wieder zurückkehren konnte, zu seinen Freunden und in seine gewohnte Umgebung. „Hier wird nicht geweint. Das ist nicht so schlimm“, war die Reaktion der Eltern, „dafür gibt es hier im Westen Bananen.“ Es wird wohl viele Ostdeutsche geben, die ähnliche Situationen aus der eigenen Kindheit kennen.
„Gefühle wie Trauer nicht zu zeigen und stattdessen mit Bananen getröstet zu werden, beeinflusste mich lange“, erzählt Baer. „Tief in mir lernte ich, Gefühle nicht spüren und erst recht nicht zeigen zu dürfen.“ Als einige seiner Sachen, die seine Eltern sich selbst vor seiner Abreise aus dem Osten an Freunde im Westen zugeschickt hatten, niemals ankamen, gab sich Udo Baer ganz selbstverständlich selbst die Schuld dafür, dass er die Sachen nicht finden konnte. „Die Schuld konnte nur bei mir liegen. Das blieb, lange.“
Warum wir sind, wie wir sind
Baer hat Interviews mit mehr als 20 Personen geführt, die wie er ein DDR-Erbe in sich tragen. Dabei zeigten sich gemeinsame Erfahrungen und auch Folgen der Erziehung und Jugend in einer Diktatur. Die Betroffenen erzählten, wie Erziehung in der DDR aussah („Mein Lernweg war mitschreiben und Klappe halten.“) und wie die vielbeschworene Solidarität ein Notkonstrukt der Mangelwirtschaft war.
Überhaupt wird sichtbar, wie die innerhalb der Bevölkerung und auch außerhalb der DDR propagierte ideale Welt des Volksstaates gar nicht so ideal war. Beispielsweise waren Frauen scheinbar gleichberechtigt: Sie gingen arbeiten – wie die Männer – und die ausnehmend gute Versorgung mit Kindertagesstätten ist noch heute Vorbild.
Jedoch wurde von Frauen auch immer erwartet, dass sie nicht nur – in Schichten – arbeiten gehen und ihre Babys mit wenigen Wochen in die Fremdbetreuung gaben, sondern auch – ganz traditionell verhaftet – gut aussahen und den Haushalt organisierten. Wer diesem Druck nicht standhalten konnte, hatte schnell Schwierigkeiten: Wer nicht arbeiten wollte, war in den Augen des Staates „asozial“ und „arbeitsscheu“. Die Forderungen, Regeln und Ansichten der DDR prägten die Menschen, die in diesem System lebten, weit über die Wiedervereinigung hinaus.
Udo Baer zeigt in seinem Buch, wie Menschen, die in der DDR lebten, aber auch deren Kinder, noch heute das Erbe des autoritären Systems in sich tragen. Damit bietet er eine Grundlage, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen und tiefliegende Traumata zu bearbeiten – eine wichtige Aufgabe, um unbeschwert in die Zukunft blicken zu können.
Udo Baer: DDR-Erbe in der Seele. Erfahrungen, die bis heute nachwirken
Beltz Verlag
235 Seiten, 18,99 Euro
ISBN: 978-3-407-86636-3