In der Depression verschwinden

Veranlagung, Umwelteinflüsse oder einfach zu wenig Serotonin im Blut – Depressionen werden oft auf medizinisch und naturwissenschaftlich nachvollziehbare Ursachen zurückgeführt, für die es dann auch Medikamente gibt. Diplom-Psychologin Birgit Langebartels wirft in ihrem Buch „Leben im Leerlauf“ ein anderes Licht auf die Diagnose Depression. Sie ist Ausdruck unserer Gesellschaft und ihres Anspruchs an jeden Einzelnen von uns.

No, we can’t

Birgit Langebartels führt viele Fälle von Depression auf unser (westeuropäisches) gesellschaftliches Klima zurück: Es ist scheinbar alles möglich – deshalb versuchen wir auch, alles, was wir möchten, zu erreichen. Das muss nicht mal die steile Karriere als YouTuber, das millionenschwere Start-up oder die Gründung der eigenen Stiftung sein: Die Psychologin lässt in ihrem Buch ganz normale Menschen sprechen, denen sie in ihrer Arbeit im rheingold institut während Tiefeninterviews zu Studien über Depressionen begegnete.

Das sind Männer, die an den Erwartungen, die an sie gestellt werden, scheitern: ein liebevoller Vater sein, der in Elternzeit geht, gesund und fit ist, im Beruf natürliche Autorität ausstrahlt und feministisch veranlagt ist. Dazu bringt er trotz allem ausreichend Geld nach Hause, um seiner Familie ein angenehmes Leben bieten zu können. Genauso gibt es Stimmen von Frauen, die an den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, zerbrechen: gut aussehen, karitativ tätig sein, Kuchen backen, die Kinder umschwirren und ihre Karriere im Blick behalten.

Aber auch ohne die Doppelbelastung, die Familie und Karriere bereithalten, können Menschen in die Spirale der Depression geraten. Digital Natives in Asien, Aussteiger im Wohnmobil, das Eigenheim im urbanen Raum, Selbstverwirklichung auf dem Land oder, oder, oder: Die vielfachen Chancen, das eigene Leben zu gestalten und die Lebenszeit möglichst optimal zu nutzen, machen uns nahezu handlungsunfähig. Wie verrennen uns in der Idee, dass wir mehr als 100 Prozent geben könnten, um unsere Ziele zu erreichen. Was bleibt, ist Chaos. „Anstatt uns für eine Richtung zu entscheiden oder Schwerpunkte zu setzen, geraten wir in eine besinnungslose Betriebsamkeit nach allen Seiten“, so Langebartels.

Depression als Flucht

Wenn dann gar nichts mehr geht, reagieren wir in Form einer Depression mit Weltenflucht. „Eine Depression ist mehr als eine Krankheit, die sich – versehen mit einer Diagnose-Nummer – in eine medizinische Klassifizierungsschublade stecken ließe“, so Langebartels. „Depression ist eine Form – wenn auch eine sehr drastische und leidvolle –, mit dem Alltag umzugehen, mit den übersteigerten Ansprüchen unserer kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie zwingt uns zum Innehalten.“

Langebartels geht in ihrem Buch der Depression als gesellschaftlichem Phänomen auf die Spur, lässt Stimmen Betroffener erklingen und macht verständlich, wie jeder Mensch daran erkranken kann. Sie zeigt die ersten Frühwarnungen auf, die der Einstieg in die sechs Phasen der Depression sind, und Anregungen, wie wir aus der Selbstoptimierung und dem Lebensgefühl des „Höher, Schneller, Weiter“ ausbrechen.

Zuletzt sieht die Psychologin uns alle in der Pflicht, achtsamer zu leben und diese – einzige – Erwartung auch in die Welt zu tragen. „Ich sehe es als eine Aufgabe unserer Gesellschaft an, die Menschen dabei zu unterstützen, das Vakuum zwischen der durch die Digitalisierung verheißenden Allmacht und der real oft erlebten Ohnmacht einerseits und dem immer noch mühsamen Alltag andererseits zu füllen“, so Langebartels.

 

Birgit Langebartels: Leben im Leerlauf. Die verborgene Logik der Depression verstehen. Wege aus der Ohnmacht.
Beltz GmbH,
240 Seiten, 18,95 Euro
ISBN: 3407865716

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