Das beste Leben für alle? Werde zum reifen Narzissten!

Morgens eine Runde Yoga auf der sozialverträglich produzierten Yogamatte, zum Mittag ein veganes Gericht und im Urlaub geht’s ins Retreat nach Indien. Wie schön! Oder bist du Elternteil und ermöglichst deinem Kind den Besuch einer Privatschule und bewahrst es vor der Regelschule mit allen ihren sozialen Gefällen? Toll! Wir möchten das beste Leben leben, das wir uns wünschen. Unsere Buzzwords: Selbstverwirklichung, Achtsamkeit, Individualität. Was sagt das über uns? Wir sind Alltagsnarzissten.

Wie weit reicht deine Achtsamkeit?

Bei dem Wort Narzissten denken wir vielleicht sofort an Menschen, die ein pathologisches Verhalten an den Tag legen und tatsächlich nur an sich selbst denken – immer. Aber abseits dieser schweren Persönlichkeitsstörung bergen wir alle einen narzisstischen Kern in uns. Wir wollen das für uns beste Leben führen. Das bedeutet schon lange nicht mehr für jeden die große Karriere, das Eigenheim und ein dickes Auto vor der Tür. Es kann auch das achtsame Leben mit Bio-Essen, Morgenmeditation und Backpacking-Touren sein. Dabei möchten wir uns auf das wirklich Wichtige im Leben fokussieren. Aber die Sache hat zumeist einen Haken. Die Werbung, Algorithmen und Influencer haben diesen Trend zur Selbst-Liebe, Selbst-Wirksamkeit und Selbst-Verantwortung erkannt – und nutzen ihn doch wieder für eigene Zwecke.

Sie predigen uns das Narrativ vom „Du kannst alles sein – und dabei ganz du selbst“. Wir brauchen dazu nur ihren speziellen Nahrungsmittelzusatz, eine spezielle Fashionmarke oder den Online-Kurs für mehr Achtsamkeit im Alltag zu kaufen. Und dann können wir endlich das Leben führen, das uns zusteht. Und dann schauen wir recht schnell darauf, was uns guttut, wie wir uns gut fühlen und was unserer Idee eines gelungenen Lebens entspricht.

Und so ist es grundsätzlich nichts Verwerfliches, das Kind auf eine tolle Privatschule zu schicken, weil dort die Lernbedingungen besser als auf einer Regelschule sind. Nur: Wenn alle Eltern, die es sich leisten können, eine solche Lösung wählen, geraten Kinder aus weniger finanzstarken Familien noch weiter ins Hintertreffen. Eine solidarische Lösung wäre es also eher, das Kind auf eine Regelschule zu geben, wo es auch auf Menschen aus anderen sozialen Schichten trifft – und sich politisch für eine bessere Bildungspolitik einzusetzen.

Wenn Selbstliebe zu Egoismus führt

Katharina Ohana würde Menschen, die eine solche Lösung finden, reife Narzissten nennen. Es ist die eine Sache, was wir wollen. Es ist die andere Sache, was unser Handeln für die Gesellschaft und die Menschen um uns herum bedeutet. Um beim Beispiel der Bildungsintentionen von Eltern zu bleiben: „Unser Stolz auf die deutsche Wirtschaftsvormacht und auf unsere begabten Kinder, denen wir einen Akademikerabschluss und gute Verdienstchancen ermöglichen wollen, treibt den Auseinanderfall unserer Gesellschaft voran“, sagt die Psychologin.

In ihrem Buch „Narzissten wie wir“ zeigt Ohana, wie wichtig und tief verankert in uns der narzisstische Blick auf die Welt ist, denn „unser narzisstischer Wunsch nach einer guten Stellung in der Gruppe, nach Wertschätzung und Zuwendung, treibt uns voran“, sagt sie, „unser Selbstwertgefühl, die Sehnsucht nach Anerkennung und Angst vor Kränkung sind die Grundlagen für unsere einzigartige, allzu menschliche Sucht nach Status und Erfolg.“ Was wir aber mit der Zeit lernen, und das ist das Anliegen des Buches, ist, von einem unreifen in einen reifen narzisstischen Zustand zu gelangen.

Und das bringt das Leben bei vielen Menschen mit sich. „Unsere kindlichen narzisstischen Wünsche und Verhaltensweisen werden von der sozialen Realität ,zurechtgeschliffen‘ – bis wir als reife Narzissten unsere realistischen Ansprüche selbst angemessen umsetzen können und ein reifes Beziehungs- und Konfliktverhalten entwickelt haben“, erklärt Ohana.

Wir wirken in die Welt

Jedoch ist immer wieder zu beobachten, dass einige Menschen dieses Stadium nicht erreichen – auch durch eine Realität, die in den Medien verzerrt gespiegelt wird. Sie denken eben doch, dass sie der Mittelpunkt der Welt sind, weil sie in einem Reality-Format mitgespielt haben. Jugendliche bekommen heute gespiegelt, dass es ein erstrebenswertes Ziel ist, TikToker zu werden und so sein Geld zu verdienen.

Was hier auf der Strecke bleibt, ist die Frage nach den Beziehungen, die wir in unserem Leben führen möchten: mit Partnern, mit Freunden, in der Familie und in der Gesellschaft. Ohana gibt in ihrem Schlusswort das Beispiel von George, dem Chef der Bausparkasse im Film „Ist das Leben nicht schön?“. Er hat in seiner Funktion viel Gutes in seiner Stadt getan. Für Ohana ist er ein „Held des Alltags“, nach dem keine Straße benannt wird, der aber mit seinem reifen Narzissmus „positiv und sozialkompetent“ seinen Alltag gestaltet – ohne „großes Aufsehen und ohne Millionen von Instagramfollowern“.


Ein Buch, das zeigt, wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, bei der Frage nach einem guten Leben nicht nur an sich, sondern auch an die Leben der anderen zu denken.

 

Katharina Ohana: Narzissten wie wir. Vom Streben nach Aufwertung – ein ehrlicher Blick auf uns Menschen
Beltz Verlag, 2022
256 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-407-86718-6

 

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