Auf den ersten Blick scheint es ein Fortschritt zu sein: Unter Hashtags wie #Selbstliebe, #BodyPositivity oder #loveyourself werden Frauen ermutigt, zu sich und zu ihrem Körper zu stehen, ihn zu akzeptieren oder sogar zu lieben. Aber: Diese Body-Positivity-Bewegung wird selbstverständlich direkt aufgegriffen und vermarktet. Oversize-Models, Menschen mit Pigmentstörungen, kleinwüchsige Menschen und alte Menschen werden als Diversity-Zirkuspferde vorgeschickt, danach kommen dann aber die wahren Stars, die wie eh und je jung, schlank und wunderschön sind.
Ja, Beth Ditto fanden wir mal gut. Aber eigentlich sollen Frauen bitte auch gut aussehen, um auf der Bühne stehen zu dürfen. Und ja, wir mögen gute Schauspielerinnen. Sie dürfen auch älter werden – nur, wenn sie auch so aussehen, bekommen sie eben keine Rollen mehr. Gender-Pay-Gap, die Gläserne Decke für weibliche Führungskräfte oder die Teilzeitfalle für Mütter: Es gibt noch sehr viele Probleme im System, mit denen Frauen in verschiedenen Lebensphasen konfrontiert sind. Die Erwartungen an Frauen sind noch immer ungleich höher als an Männer.
Und das schlägt sich in Zahlen und Studien nieder. Die Zahl an Frauen, die psychisch erkranken, ist stetig steigend. Frauen verdienen noch immer weniger als Männer: 2022 lag der Gender-Pay-Gap bei 18 Prozent – Männer verdienen im Durchschnitt 24,36 Euro brutto pro Stunde, Frauen 20,05 Euro. Was auch daran liegt, dass Frauen noch immer der Part der (weiblichen) Fürsorge übertragen wird und dieses Rollenbild in der Erziehung von Mädchen weitergegeben wird. So arbeiten im weiterhin schlecht bezahlten Gesundheitswesen 80 Prozent Frauen.
In welcher Rolle bist du gefangen?
Wer aus diesen Rollenklischees herausmöchte, der übernimmt das Gebaren von Männern. Frauen sind fürsorglich, weich und sozial. Männer sind Macher, hart im Nehmen und fokussiert. Nur: Wer von einer Rolle in die nächste springt, wird zumeist auch nicht glücklich. Die Lösung liegt darin, sich der Rollenzuschreibungen zuerst einmal bewusst zu werden, um sie dann wie eine zu eng gewordene Haut abzustreifen. Und genau dabei hilft Psychologin und Therapeutin Ulrike Juchmann mit ihrem Ratgeber „Sei du selbst, alle anderen gibt es schon“.
Aufgewachsen in einer konservativen Kleinstadt, war sie sich schnell darüber im Klaren, was von ihr als Frau erwartet wird: ein Leben als Mutter und Ehefrau. Juchmanns Mutter wollte für ihre Tochter hingegen ein freies, selbstbestimmtes Leben und sah in einem Medizinstudium diese Möglichkeit – was auch eine Art von Rollenzuschreibung ist. Die heutige Psychologin und Therapeutin entschied sich für Psychologie, in ihrem Beruf begleitete sie viele Jahre lang junge Frauen mit Essstörungen, so wie sie auch ihre Freundinnen in Schulzeiten hatten. „Immer wieder war ich sehr betroffen darüber, wie wenig diese jungen Frauen ihre eigenen Stärken und Potenziale spürten“, erklärt sie. „Wie sehr sie versuchten, ihren eigenen Körper und sich zu kontrollieren und zu optimieren. Doch statt die erwünschte Selbstbestimmung zu erreichen, landeten sie in einem Gefängnis aus Selbstabwertung und Abhängigkeit.“
Ihr Buch ist eine Einladung an Frauen, die verstehen wollen, wie sie durch ihre Umwelt, ihre Erziehung und ihre Erfahrungen geprägt wurden. Es ist die Grundlage, um sich anschließend die Frage zu stellen: Was möchte ich wirklich von meinem Leben, unabhängig von den Zuschreibungen und Erwartungen meiner Umgebung? Dazu öffnen Leserinnen sechs Türen zu wichtigen Lebensbereichen wie Beziehungen und Berufungen, begegnen der inneren Kritikerin und lernen ihre Kern-Kompetenzen, ein achtsames Körperempfinden und Wege der Selbstfürsorge kennen. Es ist ein praktisches Buch, das für einige Zeit zum Begleiter werden kann. Es hält Übungen aus der systemischen Beratung und Verhaltenstherapie bereit, aber auch Methoden aus achtsamkeitsbasierten Verfahren und Tanzimprovisationen.
Das Praxisbuch unterstützt Frauen dabei, Stück für Stück ihre eigene Stimme zu hören oder auch einen vielstimmigen Chor zu entdecken, der tief im Inneren darauf wartet, in die Welt zu wirken. Es geht nicht um Selbstoptimierung oder das Abgrenzen von weiblichen Rollenmustern, sondern darum, unabhängig vom Geschlecht in Beziehung zu sich selbst und seinen Bedürfnissen zu treten.
Ulrike Juchmann: Sei du selbst, alle anderen gibt es schon. Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben
Beltz Verlag, 2023
285 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-407-86680-6