Achtsamkeit ist ein Trend, der immer mehr Verbreitung findet. Aber was bedeutet es eigentlich, achtsam zu leben? Wir haben drei Experten für Achtsamkeit dazu befragt.
Von Buddha lernen
Was heute als Trend Wellen schlägt, ist im eigentlichen Sinne bereits über 2500 Jahre als. „Die Übung der Achtsamkeit ist das Kernelement der buddhistischen Weisheitslehre und wird seit über 2500 Jahren von Mönchen und Laien praktiziert“, weiß Speaker, Buch-Autor und Experte für Achtsamkeit Jan Eßwein. Er unterstützt Unternehmen dabei, Achtsamkeit im Sinne der Resilienz umzusetzen. Dabei orientiert er sich an der Arbeit des Amerikaners Jon Kabat-Zinn, der das Programm »Mindfulness Based Stress Reduction entwickelte. „Er löste die Achtsamkeitsübungen aus dem buddhistischen Kontext heraus und machte sie so einem wesentlich breiteren Spektrum an Menschen zugänglich“, so Eßwein. Diese Losgelöstheit von ihren religiösen Wurzeln, macht die aktuelle Achtsamkeit-Bewegung aus.
Einfach achtsam essen
Viele Menschen scheuen Methoden zur Stressreduktion, denn oft erzeugen diese wiederum Stress. Beim autogenen Training am Abend schlafen die einen ein, andere hetzen nach dem Feierabend in das Yoga-Studio – und wünschen sich doch eigentlich auf die Couch. Das Schöne am achtsamen Leben: Den Alltag bestreiten ist schon die eigentliche Übung. Wer also auf dem Sofa angekommen ist, der kann sich im achtsamen Essen versuchen. Der Fernseher wird ausgeschaltet, alle Konzentration geht in die Sinneswahrnehmung der Mahlzeit. Wie schmecken die einzelnen Komponenten dieser Speise? Wie fühlen sie sich in meinem Mund an? „Während wir kauen, legen wir das Besteck aus der Hand und konzentrieren uns nur auf den Prozess des Kauens und auf den Geschmack“, erklärt Eßwein. Am Anfang reicht es aus, wenn diese Übung nur mit wenigen Bissen durchgeführt wird. Aber schon bald werden die achtsamen Esser bemerken, dass sie nach der Mahlzeit zufriedener und ruhiger sind.
Achtsamkeitsübungen für jede Situation
Für Fortgeschrittene bieten sich verschiedene Übungen an, die passend zur Situation ausgewählt werden können. Eßwein empfiehlt Übungen wie den Bodyscan, die Atemmeditation oder achtsame Yogaübungen. Unterwegs lässt sich ohne Umstände die Gehmeditation durchführen, die entspannend wirkt. Im Beruf wie auch im Privatleben helfen Methoden wie das Unitasking, bei dem wir uns im Gegensatz zum Multitasking nur einer Aufgabe widmen oder das digitale Detox. Als Speaker stellt Jan Eßwein Unternehmen die Vorteile von wertschätzendem Zuhören oder dem Mindful Meeting vor. Jan Eßwein sieht in der Achtsamkeit aber mehr als ein Programm gegen Stress und für mehr Entspannung.
Achtsamkeit als Lebenshaltung
Immer geht es ihm darum, „in möglichst vielen alltäglichen Momenten ganz präsent zu sein, voll und ganz bei dem zu sein was wir wahrnehmen oder tun“, so Eßwein. Deshalb versteht er Achtsamkeit in einem größeren Rahmen, „nämlich mir auch meiner Werte und Ziele bewusst zu sein und mein Leben danach zu gestalten.“
Wie wir bestimmen, wie wir wahrnehmen
Was bedeutet eigentlich „Achtsamkeit“ aus psychologischer Sicht? Dr. Johannes Wiltschko ist Klinischer Psychologe, Psychotherapeut und Leiter des Deutschen Ausbildungsinstituts für Focusing und Focusing-Therapie in Würzburg. Er substantiviert diese Haltung zum Leben ungern. Vielmehr geht es um ein „achtsames Sein, also um eine Eigenschaft, um eine Haltung, um eine Praxis, um etwas, das ich tue, das ich bin“, so Wiltschko, „achtsam zu sein bedeutet zu bemerken, was jetzt gerade in der Situation, in der ich bin, vor sich geht.“ Dabei gehe es sowohl um innerliche wie äußerliche Prozesse. Was passiert in diesem Moment um mich herum? In welcher Situation befinde ich mich und wie wirkt sie auf mich? Wiltschko gibt zu bedenken, dass die eigene Haltung, „meine Einstellung, meine ‚Zugangsweise’ bestimmt, was ich erlebe.“ Wenn wir immer nur die negativen Seiten sehen möchten, werden wir auch nie die positiven entdecken. Das achtsame Sein schult das „Bemerken, ohne zu werten, ohne zu analysieren, ohne zu konzeptualisieren, ohne zu verbalisieren“, so Wiltschko.
Fokussieren in Zeiten der unbegrenzten Möglichkeiten
Was macht Achtsamkeit zu dem Trend der vergangenen Jahre? „Achtsam zu sein ist offensichtlich so ziemlich das Gegenteil dessen, was im Allgemeinen von uns heutzutage gesellschaftlich verlangt wird“, sagt Wiltschko. Tatsächlich ist zu beobachten, dass die digitalen Medien und der unbegrenzte Informationsfluss zu einer teilweise akuten Konzentrationsstörung führen. Ständige Erreichbarkeit und die Kommunikation auf allen Kanälen lässt uns stets zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Inhalten switchen. Durch das häufige Nutzen von Unterhaltungsmedien hören wir nicht mehr nach innen. Meditation ist ein Weg, sich wieder zu sammeln – „sich im Alltag immer wieder daran Erinnern“, so Wiltschko, „achtsam zu sein, auch wenn es nur für Sekunden ist, ist der andere Weg“.
Achtsamkeit in der Psychotherapie
Die Achtsamkeit spielt auch eine Rolle in der Psychotherapie. Für eine gute körperliche und seelische Gesundheit ist es wichtig, dass wir uns selbst, unsere Bedürfnisse und unser aktuelles Empfinden wahrnehmen können. „Sowohl in der klinischen Praxis als auch empirische Forschungen haben gezeigt, dass Psychotherapieklienten umso erfolgreicher sind, je mehr sie in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf diejenige Erlebensqualität zu richten, die noch nicht klar ist, die noch keine Worte hat“, weiß Wiltschko. Ein vollgepackter Terminkalender und Entertainment als Ablenkungen halten uns oft davon ab, uns selbst wahrzunehmen. So verlieren wir das Gefühl dafür, was uns gut tut und was wir eigentlich für unser Leben möchten. In der Psychotherapie wird dieses Hineinhören „Focusing“ genannt. In einer Focusing-Therapie erlernt der Klient, körperliche Symptome auf seelische Empfindungen zurückzuführen. So kannes sein, dass eine psychische Extremsituation körperliche Reaktionen hervorrufen, beispielsweise ein Zittern oder extremes Schwitzen. Die Situation geht vorüber, manchmal bleiben aber die körperlichen Symptome. Wer sein Gleichgewicht verloren hat, kann es durch angeleitete Achtsamkeits-Übungen wiedererlangen.
Entdecke das Kind in Dir
Wer schon einmal Kindern beim Spielen zugeschaut hat, der bekommt eine Ahnung davon, was Achtsamkeit bedeutet. „Sie scheinen sehr offen zu sein und sie scheinen auch ganz im Augenblick zu leben. Kinder erforschen Neues unmittelbar und vorurteilslos“, so Achtsamkeits-Trainerin Julia Grösch. Sie bietet Kurse für Eltern und Kinder im Mit Kindern wachsen EntdeckungsRaum in Darmstadt an. Erst mit zunehmendem Alter erlernen die Kleinen die Kategorien „gut“ und „schlecht“. „Da kommt es dann schon mal zu Situationen, in denen Eltern im Boden versinken wollen, weil der vierjähre Knirps im Bus ruft: ‚Guck mal Mama, die Frau hat riesige Füße!’, so Julia Grösch, „ kleine Kinder betrachten Käfer, Schnecken und große Füße eben noch unvoreingenommen.“ Genau diesen Aspekt von Achtsamkeit können sich Erwachsene von Kindern abschauen.
Achtsamer Umgang mit Kindern
Es gibt die Momente, in denen Eltern gern der Kragen platzen möchte. Im Affekt zu handelt, bringt jedoch selten etwas. Vielmehr macht es Sinn, „Raum zwischen innere Impulse und automatische Reaktionen zu bringen“, so Grösch. Mit etwas Abstand könnten wir die Situation besser bewerten, „die Ursachen der schwierigen Situation besser ergründen und nach Lösungen suchen.“ Wir lehren dieses Verhalten unseren Kindern, damit sie nach dem Wutausbruch, der auf das verwehrte Eis folgt, wieder herunterkühlen. Auch uns tut dieses Innehalten gut, denn wir können uns dann besser in Kinder einfühlen und helfen ihnen so zu lernen, gut mit eigenen Gefühlen umzugehen. Wir können dieses achtsam Sein auch für unseren beruflichen Alltag nutzen, indem wir schwierige Situationen passieren und etwas Zeit vergehen lassen, bevor wir sie bewerten.
Kein Multitasking – An einem Ort präsent sein
Eine weitere Übung, die wir im achtsamen Umgang mit Kindern lernen, ist die der Präsenz. Wir neigen dazu, viele Aufgaben zugleich erledigen zu wollen. Während die Kids am Küchentisch Hausaufgaben machen, erledigen wir den Abwasch. Beim gemeinsamen Abendessen besprechen die Eltern den Ablauf des kommenden Tages. „Kinder brauchen es nicht, vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr im Mittelpunkt zu stehen und unterhalten zu werden“, weiß Grösch, „aber sie brauchen mehrmals am Tag Momente, in denen wir uns ihnen zuwenden und sie spüren lassen, dass wir wirklich für sie da sind ohne einen Plan oder Auftrag bereit zu halten, den sie nun erledigen sollen“. Wenn noch ein Skype-Meeting am Abend ansteht und die Wäsche aufgehängt werden muss, fällt es schwer, dem Kind ununterbrochene Aufmerksamkeit zu schenken. Aber es lohnt sich, einmal auszusteigen und einfach da sind.
Achtsamkeit für ein erfülltes Familienleben
„Wir können in unserem Kind einen Lehrer sehen, der uns dazu bringt, einen Gang runter zu schalten und die gemeinsame Zeit einfach zu genießen“, rät die Trainerin. Dazu kann es auch einmal nötig sein, Ballast abzuwerfen. Das können überflüssige Termine, der Groll über einen Arbeitskollegen oder die nicht geputzten Fensterscheiben sein. „Wenn wir mit den Gedanken immer in der Vergangenheit hängen oder an die Zukunft denken, verpassen wir nicht nur das Zusammensein mit unseren Kindern, sondern unser ganzes Leben“, gibt Julia Grösch zu bedenken. Das Leben bewusst wahrnehmen und den Kindern beim Wachsen zusehen – das ist für Eltern der beste Weg zu mehr Achtsamkeit.