Zart im Nehmen – Hochsensibilität im Alltag

Hochsensibilität Kathrin SohstQuietschende Autoreifen, schreiende Kinder, Radiogedudel im Hintergrund. Für Hochsensible eine enorme Belastung. Genau so wie der Geruch von Regen, das Parfum einer Passantin, oder der Döner eines Mitreisenden aus einem anderen Abteil. Selbst grelle Farben können Hochsensiblen zu schaffen machen. Etwa 20 Prozent der Menschen zählen zu den Hochsensiblen. Erstaunlich deshalb, wie wenig über sie bekannt ist. In ihrem Buch „Zart im Nehmen: Wie Sensibilität zur Stärke wird“ erzählt Kathrin Sohst aus der Sicht einer Hochsensiblen. Wir sprachen mit der Autorin über ihren persönlichen Umgang mit Hochsensibilität.

Wie hast du gemerkt, dass du hochsensibel bist? Gab es ein Schlüsselerlebnis?

Kathrin: Im Grunde gab es über mein ganzes Leben verteilt viele Beobachtungen, Ereignisse und Lebensfragen, die dann in einem großen Schlüsselmoment gipfelten, als ich vor einigen Jahren das Buch „Zart besaitet“ von Georg Parlow in die Hände bekommen hatte. Ich las zum ersten Mal etwas über das Thema Hochsensibilität und hatte sofort das Gefühl, dass dort über mich geschrieben wird. Im Nachhinein erscheinen Erfahrungen aus meiner Kindheit und Charakterzüge in einem ganz anderen, sinnvollerem Licht. Ich hatte schon als Kind Angst vor platzenden Luftballons, als Jugendliche mied ich die lauten Partys, zu denen sich Freunde ganz selbstverständlich trafen. Die Musik von Nirvana war für mich ein unerträglicher Krach. Ich war anders als die anderen und suchte damals die Fehler bei mir selbst. Heute habe ich durch den Begriff Hochsensibilität eine Erklärung für diesen anderen Zugang zur Welt.

Fühlst du dich durch deine hochsensible Wahrnehmung in Teilen deines Lebens eingeschränkt?

Kathrin: Nein, nicht mehr. Seit ich mich positiv mit meinen sensiblen Wesenszügen auseinandersetze und sowohl Herausforderungen und Stärken annehme und für mich nutze, empfinde ich mein hochsensibles Sein nicht mehr als Einschränkung. Sicher hat es auch damit zu tun, dass ich im Leben angekommen bin. Ich habe Familie, und lebe meine Berufung. Für hochsensible Jugendliche, die sich stark an ihrer Umwelt reiben und ihre Persönlichkeit formen oder Menschen, die ihre hohe Sensibilität als Schwäche sehen und keine Erklärung für ihr Anderssein haben, ist es schwieriger, gegen den Mainstream zu schwimmen und auch einmal eine unpopuläre Haltung einzunehmen. Meine beiden Kinder und mein Mann sind auch hochsensibel. Und wir haben inzwischen begriffen, dass verkaufsoffene Sonntage und Stadtfeste für uns oft eine Reizüberflutung darstellen. Wir gehen lieber im Wald und am Wasser spazieren und auf Entdeckungstour, denn da finden wir die Ruhe, die uns gut tut.

Wie kann man aus der vermeintlichen Schwäche im Beruf eine Stärke machen?

Kathrin: Zuerst einmal muss man sagen, dass Hochsensibilität keine Schwäche ist. Unsere Arbeitswelt sieht das vielleicht so, doch das ist ein großer Fehler. Die hohe Arbeitsdichte in vielen Berufen, die viele kleine Pausen und ein besonnenes Herangehen an Aufgaben selten zulässt, macht immer mehr Menschen krank – und zwar nicht nur die Hochsensiblen. Die aktuellen Studien der Krankenkassen sprechen Bände. Ein Pluspunkt, den hochsensible Menschen auch mitbringen: Man könnte uns als Grenzwertsensoren bezeichnen. Denn wir spüren früher als andere Menschen, was krank macht und was gut tut. Wenn Unternehmen und Arbeitnehmer offen miteinander umgehen und nicht die Schwächen in den Vordergrund gestellt, sondern Potenziale angeschaut werden, dann können die Arbeitsbedingungen gesundheitsfördernd und präventiv gestaltet, und damit die eine oder andere schwerwiegende Erkrankungen verhindert werden. Hochsensible Menschen verfügen oft über ein hohes Qualitätsbewusstsein, denken lösungsorientiert und vernetzt, haben eine gute Intuition und schaffen eine gute Atmosphäre, weil sie über ein hohes Maß an Mitgefühl und Empathie verfügen. Die durchgetaktete Arbeitswelt lässt dieses Potential teilweise brachliegen, was schade ist, denn so werden die besonderen Stärken der hochsensiblen Mitarbeiter selten sinnvoll genutzt. Damit sich das ändern kann, braucht es authentische Aufklärung – eine starke Motivation für mein Buch.

Du hast ein sehr persönliches Buch über deine hochsensible Seite geschrieben. Wie kam es dazu?

Kathrin: Als Schreiberling und Kommunikationsberaterin war es schon immer ein Wunsch von mir, ein Buch zu schreiben. Etwa seit 2008 beschäftigte ich mich intensiv mit meinem ganz eigenen Sinn des Lebens. Das liegt auch darin begründet, dass sowohl mein Mann und ich wie auch unsere beiden Töchter nicht nur hochsensibel, sondern auch hochbegabt sind. Sowohl die hohe Sensibilität als auch die hohe Intelligenz zeigen sich natürlich auch in unserem Alltag, weshalb wir uns damit auseinandersetzen müssen. Ich fragte mich irgendwann, warum es trotz meiner Intelligenz immer wieder zu einem beruflichen Karriereknick kam und ich Kraftlöcher hatte, in denen nur noch wenig ging. Dann entdeckte ich die Hochsensibilitäts-Forschung. 2014 outete ich mich in einem Beitrag in der Brigitte-Community als hochsensibel. Das Feedback von anderen Betroffenen war bewegend. Kurze Zeit später zog ich mich für eine Woche zum Arbeiten in eine dänische Fischerhütte zurück. Dort kam die Idee zu diesem Buch. Innerhalb von wenigen Stunden hatte ich die Interessenbekundung von meinem Verlag Gabal. Im Winter entstand das Exposé und nur ein Jahr später stand das Buch. Parallel dazu begann ich Info- und Netzwerkabende zu veranstalten, erste Workshops und Seminare fanden statt – alles Anlaufpunkte und sensible Räume für andere hochsensible Menschen. Heute verstehe ich mich als Botschafterin für Hochsensibilität und möchte durch dieses persönlich motivierte Buch anderen Menschen zeigen, wie wir ticken, aufklären und vermitteln. Und die ersten Feedbacks zeigen, dass das Buch erste Früchte trägt.

Liebe Kathrin, vielen Dank für das Interview und die spannenden Einblicke!

Das Interview führte: Christiane K., www.LOL-mehr vom Leben.de

Kathrin Sohst: Zart im Nehmen: Wie Sensibilität zur Stärke wird. Gabal Verlag, München 2016. 336 Seiten, ISBN: 978-3-86936-688-3, 24,90 Euro.

Alle lieferbaren Titel von Kathrin Sohst auf einen Blick gibt es hier.

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